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Immer wieder werde ich gefragt wie es Loris und uns als Familie geht und das freut mich sehr. Nein, es nervt nicht, im Gegenteil. Es ist schön zu wissen, dass so viele Menschen an uns denken und weiterhin bereit sind, uns zu helfen. Es ist oft nur schwer, das in wenigen Sätzen zu schreiben. Deshalb schreibe ich ein zweites Mal wie es uns geht, naja vor allem schreibe ich von Loris und mir, aber Judith empfindet ähnlich wie ich.

Seit meinem letzten Text hat sich wenig getan und das ist das Schlimme an der ganzen Sache. Vielleicht kennst du den Film “live, die, repeat”, das ist die Action/Alien-Version von “Täglich grüßt das Murmeltier”. Aber egal welcher von den Filmen, beide erinnern stark an unsere Situation. Jeden Tag aufstehen, anziehen und das genau gleiche. Zumindest wenn man hier in Tübingen ist.

(Loris bekommt immer Kleider von uns zum zudecken, dass er uns riechen kann, wenn wir nicht da sind, deshalb hat er auf dem Bild so eine "komische" Decke.

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Anders kann man es kaum beschreiben, wenn man am Bett seines Kindes sitzt, stundenlang jede Regung beobachtet. Wie beschreibt man das Gefühl, wenn du siehst wie dein Kind leidet, ein Auge immer auf den Monitor gerichtet. Ich sehe wie die Herzfrequenz von 130 auf 120 fällt, dann auf 110 und ich weiß genau, was jetzt kommt. Ich nehme Loris Hand, versuche am Bauch zu kitzeln, rede mit ihm. Ich lege das Buch weg, das ich ihm gerade vorlese, nehme seinen Kopf schon mal etwas in den Nacken. Im Stillen bete ich, bitte, bitte, bitte nicht. Dann 90, 80, die gelbe Lampe leuchtet. Ich drücke etwas fester auf seinen Bauch, zwicke Loris ganz leicht. Alle paar Mal kommt Loris selber aus dieser Situation raus. Aber oft genug nicht, dann 79, die rote Lampe leuchtet, es gibt einen Alarmton. Ich fühle, wie sich ein dicker Eisklotz um mein Herz legt, mache mich innerlich bereit zwei, drei Schritte zurück zu gehen. Dann rennen auch schon die Pfleger und rufen “ich bin da”, beobachten Loris, stimulieren ihn. Doch oft genug hilft das nichts, dann der Ruf “Arzt zu Platz11”. Ich gehe zur Seite, die Beatmung mit dem Beutel beginnt, es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich stehe wie in einem Traum daneben, wie gelähmt. 

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Dann steigen die Werte, fallen ab, steigen. Irgendwann ist Loris wieder stabil. Es kommt Gott sei Dank selten vor, dass solche Abfälle sind. Dann darf ich wieder nah zu unserem Loris, lege meinen Kopf auf das Bett, ganz nah zu seinem, lege meine Hand auf seinen Bauch und spüre, wie das Eis um mein Herz ganz langsam auftaut. Und dann bete und singe ich ganz leise in Loris Ohr.

Trägst du mich, Herr, wenn ich müde werde, wenn ich Not meine Kraft aufzehre. Führe mich, Herr, führ mich ans Ziel. Mach mich bei dir ruhig und still. Schenk mir Flügel, die mich tragen, schenk mir Flügel heim zu dir. Ganz ganz nahe möcht ich bleiben, ganz ganz nahe bist du mir. 

Hörst du mich Herr, wenn die Stürme toben. Wenn ich nichts sehe als die hohen wogen, halt mich ganz nah, ganz nah bei dir, reich mir die Hand, greife nach mir. Schenk mir Flügel, die mich tragen, schenk mir Flügel heim zu dir. Ganz ganz nahe möcht ich bleiben, ganz ganz nahe bist du mir. 

Um diese Flügel bitte ich jeden Tag. Jedes Mal aufs neue wird mir schlecht bei der Warterei auf das Ergebnis des Corona-Tests, weil die Zeit so lang erscheint bis ich endlich zu Loris darf. Dann komm ich in sein Zimmer und stell zuerst die bange Frage, wie die Nacht war. Hatte er tiefe Abfälle, Krämpfe, wie geht es ihm? Die Pfleger sind alle echt super. So viel Liebe haben sie für unseren Loris, dass es mich nach wie vor begeistert, wie sie mit ihm umgehen. Wenn Zeit ist nehmen setze sich auch mal in den Sesel und haben ihn auf dem Arm. Dann stelle ich gleich die Frage, ob ich ihn auf dem Arm haben kann, mit meinem Loris kuscheln, ihn ganz fest an mich drücken. Am liebsten würde ich nie wieder los lassen. Das geht nicht immer, nur wenn keine Kinder neu auf Station kommen oder OPs an den anderen Betten anstehen.

So vergehen unsere Tage. Es ist der 12.11. Es wurde ein 24Stunden-EEG gemacht und festgestellt, dass die Krämpfe nicht vom Großhirn und nicht von der Hirnrinde kommen. Eigentlich wollte ich nie Medizin studieren, doch nun habe ich das Gefühl, ich sitze jeden Tag in einer Vorlesung über Neurologie, erfahre so viel über Medikamente, Nebenwirkungen usw. Jeden Tag wird weiter gesucht, Medikamente eingestellt, Blut abgenommen und versucht herauszufinden, was mit Loris ist.

Nun soll nächste Woche nochmal ein MRT vom ganzen Kopf gemacht werden. Die Aufklärungsbögen habe ich schon unterschrieben. Es ist das Warten, das einen verrückt macht, das nicht zur Ruhe kommen. Nun müssen wir dieses MRT abwarten. Und immer diese Maske, das macht einen echt mürbe. Vorlesen mit Maske, weinen mit Maske, singen mit Maske. Loris kennt Menschen nur mit Maske. Er kennt eh so wenig, die Sonne, den Wind, seine Omas und seinen Opa, seine Geschwister. Oh Loris, es tut mir so leid. 

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Neben all dem vergesse ich oft, das Gute zu sehen. Loris ist oft ganz wach, er sucht Blickkontakt, fängt an, sich zu bewegen, gibt Töne von sich, hat erste Würgereflexe, beim Absaugen und ab und zu kommt so eine Art Räuspern. Loris kann Arme und Beine über Kreuz bewegen, er hat jetzt etwas mehr als sein Geburtsgewicht und ist gewachsen. Alle Werte sind in der Regel stabil und Loris braucht keine Unterstützung beim Atmen. Doch dann im Hinterkopf immer wieder diese Ungewissheit. Was heißt das für sein späteres Leben? Wie können wir das alles schaffen? Und vor allem: wann wache ich morgens auf und stelle fest, nicht mehr in Tübingen zu sein? Wann können wir endlich die Intensivstation hinter uns lassen? Wann dürfen wir endlich nach Hause. 

Wenn ich daheim bin, erlebe ich das totale Gegenteil, das pure Leben, streiten, lachen, weinen. Nach wie vor wird für mich gekocht, wäsche gewaschen, was mich so sehr entlastet.

Ich spüre aber immer mehr, dass ich müde werde. Eine Müdigkeit, die von innen zu kommen scheint. Weil es Loris besser geht, dürfen wir jetzt bis 23.00 Uhr bei ihm bleiben. Diese Zeit am Abend genieße ich unglaublich, wenn die anderen Eltern kurz nach 20.00 Uhr gehen. Dann ist Übergabe der Spätschicht an die Nachtschicht. Das Licht wird ausgemacht oder gedimmt und es wird ruhig. Klar ist immer wieder ein Notfall, es piepst und blinkt. Aber so wie es im Zimmer ruhig wird werde auch ich ruhiger, komme runter. Dann mache ich meine Kopfhörer rein, höre Musik und spüre einen tiefen Frieden. Einen Frieden auch über alle quälenden Fragen, spüre nur Loris auf meinem Bauch, das heben und senken seines Bauches. Ich habe einen Frieden, egal wie das hier ausgeht. Egal was kommt. Egal wie müde, frustriert oder hoffnungslos ich gerade bin. Ich spüre eine Kraft tief in mir, die bereit ist zu tragen, zu ertragen, mitzutragen, weiter zu tragen, egal was kommt, Loris wir und ganz viele andere Menschen sind für dich da. Und wir freuen uns über jeden kleinen Fortschritt, über jede Stunde ohne Anfall. Dann lehne ich mich zurück und weine, nicht laut schluchzend, sondern leise, lasse mich fallen. Und ich spüre diese Flügel, die mich tragen auf eine Weise, die ich nicht beschreiben kann. Dann ist es keine Frage mehr "trägst du mich Herr", denn es ist zu einer Gewissheit geworden, "du trägst mich Herr". 

Um 23.00 Uhr muss ich raus. Dann falle ich in Tübingen einfach ins Bett und schlafe oft bis 7.30 Uhr. Morgens mache ich im Zimmer etwas Training, habe Gewichte mitgebracht, Liegestützen und Situps, gehe ein wenig in er kühlen Luft des Morgens spazieren. Und dann bin ich bereit für einen neuen Tag, gehe wieder zum Test, stelle wieder die Frage wie die Nacht war…

Wenn ich komme sieht es immer so aus, bei Judith ist es aufgeräumter. 

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Ich freue mich aber auch auf Sonntag, wenn wir wieder tauschen, freue mich auf diesen kurzen Moment, Judith zu sehen, auf die Umarmung und das Wissen, dass zwischen uns alles gut ist. Freue mich auf meine Kinder daheim, auf die Vormittage im Training. Freue mich darauf mit Lotta einen Film zu schauen, mit Luise zu basteln, mit Lasse Lego zu bauen und mit Lino zu schmusen und in seinen wundervollen Bauch zu beißen und auf sein Lachen, das aus vollem Herzen kommt.

So müssen wir nun noch 4 lange Tage warten bis am Mittwoch das MRT gemacht ist, um zu wissen wie es weitergeht. Schwer diese Zeit auszuhalten. 

 Hier ganz seltenes Bild, kurz nach dem waschen, wickeln anziehen. Das machen wie oft selber. 

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by grace

By grace alone somehow I standWhere even angels fear to treadInvited by redeeming loveBefore the throne of God aboveHe pulls me close with nail-scarred handsInto His everlasting arms

Ronnie

schwäbischer tüftler und bastler, kraftsportler, 41 Jahre, 1 Frau, 5 Kinder und 1003 Ideen. 

ronnie berzins at mee